Donnerstag, 30. Juni 2011

Allgemeine Presseschau (Juni 2011)

Mein Job bringt mit sich, dass ich hin und wieder quer durch die Welt gurke. Letzter Montag war wieder solch ein Tag, der, angesichts der angekündigten Hitze, zu leicht in ein bahnzügliches Martyrium hätte münden können.

Tatsächlich fiel die Klimaanlage in einem Abteil meines Intercitys aus. Ich selbst fand das nun aber nicht wirklich zu warm dort. Eher bequem, wo da doch nicht so viele Leute saßen. Aber nichts da: Laut Verordnung XYZ dürfe ich mich da nicht breit machen. Also musste ich in ein anderes Abteil und mir dort den Zug mit Hechtsuppe gönnen. Toll!

Aber ein guter Anlass, hier einmal auf meine Lieblingskolumne hinzuweisen: Denn Mely Kiyak motzte am Samstag (25.06.2011) wieder in ihrer herrlich, rotzfrechen Art über eben diese Deutsche Bahn. Ich selbst mag, nein: liebe, ihre Texte. Vielleicht nicht alle. Aber ich würde meinen, fast alle.

Der häufig widerspenstige Humor ihrer Kolumne, die erfrischend jugendlich rüberkommt, gehört für mich einfach zu den Wonnemomenten der Woche. Davon abgesehen schrieb sie auch sehr ernste Beiträge, die ebenfalls einen eigenen Charme versprühen und gerade dadurch zum Nachdenken anregen. Auch, wenn ich sicher bin, dass sie's nie lesen wird: Danke dafür!

Damit zu einem ersteren Thema: Dem Steuerbauch. Jens Berger, der Spiegelfechter, hat auf den NachDenkSeiten einen interessanten Beitrag zu eben diesem Thema geschrieben, den ich jedem und jeder gerne ans Herz legen möchte. Vor allem auch deshalb, weil ein gewisser Professor aus Heidelberg derzeit wieder mit seinen Reformvorschlägen zur Besteuerung in den Zeitungen ist.

Heute ist der 30.06.2011 und damit leite ich über zu Tom Strohschneider im Freitag (26.06.2011), der die Verschleppung der Wahlrechtsreform kritisierte: Drei hingeworfene Jahre, so sein Fazit. Passend dazu der am 29.06.2011 getwitterte Hinweis von Bettina Hammer (Telepolis):

"Wie stark sich die nervenaufreibende Situation für die Abgeordneten bemerkbar macht, zeigt sich deutlich daran, dass neben der Verlängerung der "Antiterrorgesetze" nicht einmal Zeit, Nerven und Kraft vorhanden waren, um ein Wahlrecht zu formulieren, dass den Vorgaben von Karlsruhe Stand hält. Der jetzige Entwurf wird nach der Sommerpause bearbeitet werden - die Frist, die das BVerfG setzte, endet am 30. Juni diesen Jahres."

Ich hatte zwar schon vor ein paar Tagen darauf hingewiesen, aber ich denke, an diesem Tage sollte mensch nochmals auf dieses unrümliche Stück Politik aufmerksam machen. Sollte sich heute nichts ändern, können Sie, werte Leserschaft, den heutigen Tag als historisches Ereignis im geschichtsträchtigen Kalender notieren: Der 30.06.2011, der Tag, an dem sich die deutsche Politik von der Demokratie verabschiedete.

Passend dazu gleich nochmal die Erinnerung an die Dresdner Datensammlungssauerei. Wie die Frankfurter Rundschau (22.06.2011) berichtete, hatte die Dresdner Polizei nicht nur anlässlich einer Anti-Nazi-Demo im Februar 2011 eine Funkzellenauswertung vorgenommen, sondern bereits 2009. Die Daten wurden natürlich nicht gelöscht.

Wer sich dazu die Diskussion um die Aufbewahrung der Daten in Erinnerung ruft, wird hier all jene bestätigt finden, die damals schon vor Begehrlichkeiten warnten und kritisierten, dass weder die Datensicherheit noch die Löschung der Daten bei elektronischen Überwachungen gewährleistet sei.

Zum gleichen Sachverhalt berichtete die taz (29.06.2011), dass nicht nur Bewegungsdaten aufgezeichnet wurden, sondern auch ganze Gespräche. Der Innenminister Ulbig (CDU) bestritt das allerdings. Überhaupt warf die Sächsische "c"DU Nebelkerzen, indem sie zum "Gegenangriff" überging und behauptete, dass mit den Vorwürfen zur Handy-Überwachung von linken Gewaltorgien abgelenkt werden sollte. Dagegen kritisierte selbst der Koalitationspartner FDP - vereinzelt - diese Überwachungsmethoden.

Damit zu einem anderen Thema: Antiziganismus. Während mensch hierzulande für den Antisemitismus reichlich sensibel zu sein scheint, fristet der Antiziganismus - die "Zigeunerfeindlichkeit" - ein regelrecht stiefmütterliches Schattendasein. Dabei reicht ein Blick in die östlichen Gefilde Europas, um einfach nur empört zu sein. Aber auch in unserer unmittelbar westlichen Nachbarschaft spielt sich Fragwürdiges ab: Erst letztes Jahr, als Frankreichs Präsident Sarkozy mit den Räumungen sogenannter Roma-Lager den antiziganistischen Einstellungen der Französinnen und Franzosen Vorschub leistete.

Jedenfalls berichtete Jeroen Kuiper im Freitag (18.06.2011) über die aktuelle Lage der Roma und Sinti in Ungarn. Sicherlich keine einfache Situation. Aber ich denke, gerade wir als Europäer haben da eine gewisse historische Verantwortung gegenüber diesen Minderheiten, die im Grunde schon immer von der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert wurden. Offen gestanden: Die - auch moderne - Fortsetzung dieses Zustands halte ich für unerträglich.

Nun will ich nicht zu einem Ungarn-Bashing anregen. Das wäre mir zu einfach, zumal die Ungarische Fidesz-Regierung "dank" ihres Mediengesetzes in letzter Zeit ohnehin in der (Europäischen) Kritik stand (Zeit, 08.03.2011). Auf der anderen Seite schießt die Ungarische Regierung einen Bock nach dem anderen: Jetzt wird gerade ein Gesetzesentwurf diskutiert, laut dem Erwerbslose schon mal zur Arbeit z.B. auf den Bau verpflichtet werden können. So berichtete Ralf Leonhard in der taz (30.06.2011):

"Ein bereits im Ministerrat präsentierter Plan sieht vor, die Arbeitslosenunterstützung von derzeit neun Monaten auf 180 Tage zu begrenzen. Ein erster Entwurf zog sogar drei Monate in Betracht. Wer dann keinen Job hat, soll im Rahmen eines 'Ungarischen Arbeitsplans' zwangsverpflichtet werden können - unabhängig von der Qualifikation.

Die Rede ist von großen Bauvorhaben, wie der Errichtung des neuen Stadions von Debrecen, der größten Stadt Ostungarns. Eine zweistündige Anreise zur Baustelle wird als zumutbar erachtet. Wer mehr als zwei Stunden entfernt wohnt, würde dann für die Dauer des Einsatzes in einer Containerstadt, also einem Lager, untergebracht werden."

Das dürfte Vertreter(inne)n der FDP und CDU/CSU regelrecht das Wasser in die Augen treiben. Vom hierzulande üblichen Ein-Euro-Job zu solchen Ideen ist es ja nur ein kleiner Schritt. Sollte sich Ungarn am Ende als Experimentierwiese einer westlich-"neoliberalen" Politik erweisen?

Zu einem anderen Thema: Florian Rötzler (Telepolis, 30.06.2011) berichtete über ein Papier zweier Wirtschaftswissenschaftler, die sich mit Kriegen, Globalisierung und Demokratie beschäftigten. Zugegebenermaßen könnte der Artikel etwas detaillierter sein. Dennoch gibt er ein paar interessante Ergebnisse dieser Stude preis:

"Die Globalisierung hat keineswegs das Interesse an kriegerischen Auseinandersetzungen schrumpfen lassen und auch die Hoffnung, dass Demokratien die Lust am Krieg schwinden lassen, scheint zu trügen. Zwar sind Handel und Demokratisierung angestiegen, gleichzeitig aber auch Kriege. Zwischen Demokratie und Kriegen haben die Wissenschaftler keine Beziehung feststellen können, während Handelsoffenheit ein klein wenig die Bereitschaft zum Krieg zu mindern scheint."

Insgesamt ein guter Anlass, sich etwas mehr mit dieser Studie und dem Thema zu befassen.

Nun noch etwas zum Thema Kultur. Als ich letzte Woche auf Zeit-Online rumstöberte, traute ich meinen Augen kaum: Atari-Teenage-Riot scheinen wieder ein Album produziert zu haben. Für alle, die nicht wissen, wer ATR ist: Eine linke Anarcho-Techno-Kapelle aus Berlin. Zugegebermaßen ist deren Musik gewöhnungsbedürftig. Nicht jedeR wird sie lieben. Aber mit ihrer "Hetzjagd auf Nazis" wurden ATR am Anfang der 1990er regelrecht Kult.

Um einen etwas anderen Medien-Kult ging es bei Toms Wochenschau. Passend zum Ende der Wetten-das-Gottschalk-Ära fragte er: Wann verschwinden Sie endlich von der Mattscheibe, Herr Gottschalk? Bei dem ganzen Hype, der in den Wochen davor um Gottschalk gemacht wurde, denke ich, dass Tom hier einen gut argumentierten Kontrastpunkt setzte. Das dort verlinkte Interview mit Kinsky zeigt, dass Gottschalk den Hype überhaupt nicht wert ist.

Tja und zum Schluss ein kleiner Nachruf: Peter Falk alias "Columbo" ist am 23.06.2011 gestorben. Zwar wirkte Falk auf mich nie wie ein großer Star, aber er hatte dieses unerklärliche Etwas, das ihm meine Sympathie einbrachte. Das gelang ihm vor allem mit seinem Columbo, der ständig etwas schnuddelig und verstreut wirkte, damit aber seinen Schwejkschen Scharfsinn zu seinen Gunsten zu verstecken verstand. Was da häufig aufeinander prallte, war der Habitus der der gut gebildeten "oberen Zehntausend" und das gutmütig, proletarisch angehauchte Staunen des Angestellten Columbo. Das machte Spaß. Regelrecht legendär sein "Just another thing" (Ich habe da noch eine Frage ...).


Nun verstarb Peter Falk am 23.06.2011. Mit ihm geht ein interessanter und engagierter Schauspieler. Lesenswerte Nachrufe auf Peter Falk gibt es von Daniel Kothenschulte (Frankfurter Rundschau) und auf dem Zeitgeistlos-Blog.




Nicht ohne Grund fiel diese Presseschau etwas umfangreicher aus. Es wird zwar ggf. noch einen kleinen Beitrag geben, aber da ich in den nächsten Tagen wieder außer Landes bin, wird es jetzt erstmal etwas ruhiger werden. Ich bin mir aber sicher, dass es nach dem 12. Juli wieder etwas zu berichten gibt. Smilie by GreenSmilies.com

Mittwoch, 29. Juni 2011

Syrien: Ein Zwischenruf

Ursprünglich wollte ich einen etwas längeren Beitrag zu Syrien schreiben, habe mich aber dazu entschlossen, das doch etwas kürzer zu halten.

Es war das Frühjahr 2009, als ich mich anschickte, dieses Land - Syrien - zu besuchen. Dort angekommen, erging es mir - vermutlich - wie vielen Westeuropäer(inne)n: Den Orient, den ich zu finden hoffte, fand ich nicht. Ich lernte einen anderen Orient kennen, einen nach vielen Grauschattierungen hin differenzierten und in seiner Widersprüchlichkeit faszinierenden Orient.

Typisch dafür war Tartus, wo ich unbedarft mit der örtlichen Queer-Community in Berührung kam und eine leise Ahnung davon erhielt, wie "reserviert" ihr die syrische Gesellschaft gegenübersteht: Das an einem Ort, der doch zunächst geradezu liberal wirkte, wenn auf der Strandpromenade schon mal Bier getrunken werden konnte und die Damenmode dort nicht gerade an "züchtige" Glaubenskleidung erinnerte.

Tartus
(c) 2011 KrAutism

Spätestens seit April diesen Jahres wird hierzulande gehäuft über Syrien berichtet. Ursache ist der arabische Frühling, der nach Syrien schwappte und seit April für Revolten sorgte (für eine Übersicht siehe Wikipedia 2011). Am 9. April war z.B. im Spiegel zu lesen, dass die syrische Armee in Latakia auf Demonstrant(innen) schießen ließ. Aber nicht nur dort: Auch in Homs kam es zu Auseinandersetzung mit, so wurde berichtet, Todesopfern. Über weitere Zusammenstöße berichtete u.a. die SZ vom 25.04.2011. Vor dem April war u.a. auf Telepolis von Zusammenstößen von Militär und Demonstrant(inn)en sowie Todesfällen zu lesen. Ebenfalls dort findet sich ein Artikel, in dem über die Hinrichtung von Soldaten berichtet wird, die sich weigerten, auf Demonstrant(inn)en zu schießen (Telepolis).

Anders als im Falle Ägyptens ist die Berichterstattung über Syrien meiner Beobachtung nach unaufgeregter. Möglicherweise liegt das an weniger spektakulären Bildern, was wiederum der politischen Situation Syriens geschuldet sein kann. Oder aber, "wir" sind durch Libyen, Tunesien und Ägypten medial einfach übersättigt.

Im Falle Syriens von Desinteresse zu sprechen, greift aber insofern zu kurz, als z.B. Barack Obama schon im April 2011 das gewaltsame Vorgehen der Armee kritisierte. Angesichts der drohenden Flüchtlingsströme fand ebenso der türkische Ministerpräsident Erdogan deutliche Worte: Das Vorgehen Syriens wäre "barbarisch" (Focus vom10.06.2011). Auch Außenminister Westerwelle sparte nicht mit Kritik (Welt).

Letztlich verhängte die EU Anfang Mai Sanktionen gegen Syrien (Faz), die gegen Ende Mai 2011 sogar ganz konkret auf den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad ausgeweitet wurden: Dieser erhielt ein Einreiseverbot und eine Vermögenssperre (SZ).


Davon unbeeindruckt setzte Bashar al-Assad das gewaltsame Vorgehen gegen die Demontrant(inn)en fort (SZ vom 11.06.2011, ASP, FR vom 10.06.2011, Zeit vom 18.06.2011, Focus vom 25.06.2011).

Obwohl das in Europa entschieden abgelehnt zu werden scheint, ergeben sich einerseits bestimmte Widersprüche: Während gegen Gadaffi ein Haftbefehl beantragt wurde, weil er gegen Demonstrant(inn)en vorging, steht ein solcher mit Blick auf Bashar al-Assad noch aus (Telepolis 28.06.2011). Auf der anderen Seite scheint mir die Europäische Verurteilung und Berichterstattung zu Syrien seltsam routiniert und abgeklärt. Mensch scheint sich an diese Dinge gewöhnt zu haben.

Angesichts solcher Zeiten sind Beiträge wie "Syrische Wahrheiten" von Damir Fras (FR, 25.06.2011) eine wirkliche Wohltat, denn sie bringen diesen für "uns" so abstrakten und entfernten Konflikt auf eine begreifbare Ebene, auf der wir - aus meiner Sicht - für das Thema sensibilisiert werden können. Zugegebenermaßen berührte mich Fras Artikel auch deshalb, weil dort von Latakia die Rede war, der letzten syrischen Küstenstadt, die ich auf meiner Reise durch Syrien besuchte und wo meiner Meinung nach die besten Plätzchen und Kekse im Nahen Osten gebacken werden.

Latakia
(c) 2011 KrAutism

Wie auch immer: Angesichts der Berichterstattung zu Syrien hatte ich das Gefühl, dass etwas fehlt. Mir schienen die Demonstrationen in Syrien einfach in den medialen Topf mit der Aufschrift "Arabischer Frühling" geworfen zu werden, um es dann dabei zu belassen. Wer das Thema etwas stärker vertiefen will, sei auf die folgenden Hintergrundberichte, Interviews und Einschätzungen verwiesen:
Obsthändler in Latakia
(c) 2011 KrAutism

Dienstag, 28. Juni 2011

Presseschau: ARGE

Gestern bin ich über einen Artikel von Ingrid Müller-Münch aus der Frankfurter Rundschau gestolpert: "Der Beziehungskiller Hartz IV". Dort beschrieb die Autorin, wie der eigene Partner oder die eigene Partnerin trotz ausreichendem Einkommens ins Visir der Arbeitsagentur (ARGEn) geraten kann.

Zugegebenermaßen schwächelt dieser Beitrag in der Frage, inwiefern die dort erwähnte Partnerin des sozial Bedürftigen nicht auch hilfsbedürftig ist: Schließlich kann es sein, dass das Einkommen, das diese Frau verdiente, so gering ist, dass auch sie hilfsbedürftig im Sinne des Sozialgesetzbuches wäre. Obwohl es sich im Text angedeutet findet, ist meines Eindrucks leider nicht deutlich genug klargestellt worden, dass die Partner als Bedarfsgemeinschaft zählen und es nach dieser Logik (!) keine einzelnen Einkommen, sondern einen gemeinsamen Einkommenspool gibt.

Nichtsdestotrotz zeigt der Beitrag sehr eindrücklich, wie problematisch diese Sichtweise ist: Obwohl es auf der einen Seite verständlich ist, wenn die im Haushalt zusammen lebenden Personen auch finanziell füreinander einstehen und dies auch mit Blick auf die Sozialtransfers beachtet wird, ist es eine bodenlose Frechheit und eine Beschneidung von Freiheitsrechten, wenn die finanziell gesunde - die arbeitende - Partei durch die Hilfsbedürftigkeit des Partners/der Partnerin durch die ARGE gegängelt wird. Hier zeigen sich die Schwächen in dem Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft, die schleunigst gelöst gehören. Die Alternative dazu praktizieren offenbar eine Reihe von Partnerschaften bereits: Die leben nicht zusammen, zumindest nicht auf dem Papier.

Ein zweiter Artikel zu Hartz IV: "Schwarz arbeiten, Hartz IV kassieren" hieß es bei Thomas Öchsner in der Süddeutschen. Laut Angaben der Bundesagentur für Arbeit sei die Zahl derer, die neben Hartz IV noch einem Job nachgehen und das nicht angeben, gestiegen. Schon der Titel ist tendenziös. Und selbst der Hinweis auf die fehlerhaften Bescheide im Text korrigieren nicht den Eindruck, der mit dem Titel und praktisch OT-artig vermittelt wird.

Ich habe den Text trotzdem verlinkt, weil er sehr gut zeigt, welche Nebelkerzen geworfen werden und wie manipulativ solche Artikel zum Teil verfasst sind. Gleich am Anfang wird dort z.B. erwähnt, dass es sich um Verdachtsfälle handelt. Es ist also noch nicht einmal entschieden, ob überhaupt "Sozialbetrug" (wie es im Artikel heißt) vorliegt. Dann wurde eine Vertreterin der Bundesagentur zitiert: Die erhöhte Zahl ginge nicht zwangsläufig darauf zurück, dass die Bedürftigen mehr schwarz arbeiten als vorher, sondern heute wären die MitarbeiterInnen der ARGEn sensibler.

Im Klartext heißt das: Die haben schon vorher so viel schwarz gearbeitet, wir konnten das nur noch nicht "ahnden". Im Grunde verschärft das sogar den im Titel erwähnten Eindruck.

Jetzt ging es aber noch weiter: Klammheimlich wurde eingeschoben, dass die Ordnungswidrigkeiten insgesamt zunahmen. Auch hier wurde zwar wieder erwähnt, dass es sich um Verdachtsfälle handelte, aber erneut vermittelten die Formulierungen den Eindruck, dass es sicher nicht nur Verdachtsfälle waren.

Verschärft wird dies erneut mit einem recht hinterhältigen Argument: Eine Reihe solcher Fehler gingen ja auf "grob fahrlässige" und richtige wie unvollständige Angaben der AntragsstellerInnen zurück. Also wieder die Bedürftigen, die entweder zu doof zum Ausfüllen der Anträge wären oder aber im Ruch des "Sozialbetruges" stehen.

Tja und dann kam ein Zahlenspiel, dass die Problematik der Widersprüche wieder relativierte. Die ARGE arbeitet tadellos - so könnte das Fazit lauten. Aber komisch: Angeblich wurden 158.000 Widersprüche mit Klage angefochten und gleichzeitig hieß es, dass von den gesamten Widerspruchsverfahren 164.000 Fälle auf Fehler in der Grundsicherungsstelle zurückgingen. Wenn die Zahl der korrigierten Widersprüche sogar über jener Zahl liegt, die von den Sozialgerichten korrigiert werden, sieht mir das nicht sehr nach einer guten Arbeit aus.

Irgendwie passt das auch nicht in das Bild, das Fachleute angesichts mangelhafter Gesetze schon länger beklagten: Dank der schwammigen Gesetze hätten Widersprüche und Klagen gegen die Bescheide der ARGEn gute Aussichten auf Erfolg, was allerdings dazu führt, dass die Sozialgerichte heilos überfordert - d.h. überbeansprucht - werden. Zu den Bescheiden und den Klagen vor dem Sozialgericht meinten zwei Sozialrichter (Schnitzler und Schlüter), die in der taz interviewt wurden:

"Die Bundesagentur für Arbeit sagt, dass sich 2009 1,4 Prozent der Hartz-IV-Bescheide nach Widersprüchen oder Klagen als fehlerhaft erwiesen haben.

Schnitzler:
Die Zahl bezieht sich nur auf den Anteil der Bescheide, die korrigiert, weil angefochten wurden. Das sagt nichts darüber aus, wie viele Bescheide tatsächlich falsch waren.

Schlüter: Die Bescheide, die wir sehen, sind überwiegend nicht korrekt: Die Klagen haben in über der Hälfte der Fälle - zumindest in Teilen - Erfolg".

Ähnlich ließe sich auch ins Feld führen, dass mit Blick auf die verhängten Sanktionen der ARGEn fast 2/3 der Klagen gegen derartige Bescheide Erfolg haben (siehe eine kleine Anfrage im Bundestag von 2009, S. 4, PDF).

Im April 2011 gab Wolfgang Lieb von den NachDenkSeiten dazu den interessanten Hinweis, dass die ca. 800.000 Sanktionen (laut Bundesagentur für Arbeit) nicht frei von Mehrfachzählungen sind. Vor diesem Hintergrund scheint es berechtigt, zu fragen, wieviele Bescheide der ARGE auf solchen Überlagerungen basieren.

Davon abgesehen ist mein wesentlicher Kritikpunkt aber, dass sich Thomas Öchsner in seinem Text allein auf die Angaben der Bundesagentur für Arbeit stützte und es nicht für nötig hielt, dem eine entsprechende Kritik gegenüberzustellen. Mit qualitativem Journalismus hat das herzlich wenig zu tun. Im Grunde hätte er sich auch gleich als PR-Schreibfink der Bundesagentur ausgeben brauchen. Das wäre auf das Gleiche hinausgelaufen.

Abschließend möchte ich auf "Wut und Dauerdämpfung" von Rudolf Stumberger auf Telepolis verweisen. Er erinnerte dort an die traurigen Ereignisse vom 19. Mai 2011, als eine junge Frau in einem Frankfurter Jobcenter ein Messer zog, einen Polizisten verletzte und von dessen Kollegin erschossen wurde (siehe auch die Frankfurter Rundschau vom 19.05.2011). Stumbergers Artikel bietet dazu eine gute, rückblickende Einordnung des gesamten Problems.

Sonntag, 19. Juni 2011

Kleine Presseschau

Mir sind in den letzten Tagen ein paar interessante Beiträge über den Weg gelaufen, die ich hier - so kurz vorm offiziellen Wochen-Ende - fix verlinken wollte.

(1) Sozusagen als Nachtrag zu meinem letzten Blogeintrag über die Griechenlandkrise: "Die Neue Deutsche Kapitulation" auf Weissgarnix.de. Die Griechenlandkrise als Aufhänger nehmend, wird dort generell das politische Hickhack der letzten Zeit unter die Lupe genommen.

Inhaltlich findet eine Menge dessen, was gemacht wird, meine Zustimmung. Aber dennoch kann ich es kaum fassen, wie sehr sich die Politik angesichts ihrer eigenen, ursprünglichen Absichten jetzt als Getriebene präsentiert; als Grashalm im Wind, der sich stets dahin neigt, wohin es ihn bläst. Unglaublich!



(2) "Messerstich: Mitten ins Herz" von Petra Speck-Fehling in der Berliner Zeitung. Es geht um eine Messerattacke, die schon ein paar Jahre zurück liegt. Die Autorin interviewte den Täter, was als Grundlage für den Artikel diente. Die Dramaturgie ist zwar leicht vorhersehbar, aber trotzdem nicht nervig. Es ist ein entlarvender Text. Und ich finde, angesichts der Länge, ist es durchaus mal zu würdigen, dass mensch solch einen Text lesen darf. Das Thema selbst ist natürlich ebenso empörend.

(3) "'Krieg' im Gefangenenlager Guantanamo" (Telepolis). Laut US-Administration sind Blut, Sperma und andere Körperflüssigkeiten (u.ä.) die Waffen der mutmaßglichen Terroristen in Guantanamo. Irgendwie absurd, zeigt aber, wie weit der Vorwurf des "Terrorismus" ausgedehnt werden kann.

(4) "Sächsischer Hochschulentwicklungsplan: Kein Ziel, keine Vision - Hauptsache sparen" von Ralf Julke in der liz. Ein längerer, vielleicht nicht ganz so gut lesbarer Artikel, aber dennoch mit vielen Informationen zum aktuellen Hochschulentwicklungsplan der Sächsischen Landesregierung. Wirklich Neues gibt's nicht. Im Grunde führt der Titel "Hochschulentwicklungsplan" auch völlig in die Irre.

(5) "Militanz muss vermittelbar sein" (taz). Anlässlich des "Kongress für Autonome Politik" in Köln ein Interview mit bekennenden Autonom(inn)en. Ich finde den Text vor allem deshalb interessant, weil er ein Thema aufgreift, das meiner Meinung nach derzeit ein Tabu darstellt: Es geht um die Frage der Gewalt im politischen Protest.

Damit ich nicht falsch verstanden werde, weise ich ausdrücklich darauf hin, dass ich keinen Terror meine. Doch wer sich in den Europäischen Ländern umschaut, wird häufig auf gewaltsame Formen des Protests bzw. des Widerstands treffen. Ich denke da vor allem an die gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen in Frankreich, wo mit der Sprengung von Fabrikanlagen gedroht wurde. Ich denke, an einer Auseinandersetzung mit diesen Fragen kommen wir über kurz oder lang nicht vorbei.

Soweit meine presselandwirtschaftlichen Eingebungen. Viel Spaß beim Lesen!

Spreng hat keine Meinung ...

Michael Spreng war u.a. Bildredakteuer und Politikberater von Jürgen Rüttgers. Jetzt mögen einzelne vielleicht schon die Nase rümpfen. Aber der Mann schreibt bisweilen doch mal ein paar ganz vernünftige Sätze. Insbesondere an den Politikern lässt er kaum ein gutes Haar. Tja und nun das: Spreng hat keine Meinung. Und Vertrauen hat er auch nicht. Jedenfalls bloggte er das auf Sprengsatz.de.

Und um was ging's dabei? Um Griechenland. Spreng findet, dass es zu viele Meinungen, zu viele Pros und Contras gäbe. Entsprechend bekannte er:

Ich habe keine Meinung, weil ich nicht weiß, auf welcher Grundlage ich sie mir bilden, wem und welchen Argumenten ich vertrauen kann. Und ich ärgere mich über mich selbst, weil ich so hilflos bin.



Protestierende Griechen
(Quelle: WDR)

Fast wäre ich geneigt gewesen, seinem Artikel zuzustimmen.

Doch wer ab und an mal außerhalb des Euro-Währungsraumes zu tun hat, wird recht schnell die Vorzüge des Euros zu schätzen wissen und allen Überlegungen an die  Abspaltung Griechenlands und die Wiedereinführung der Drachme eine Absage erteilen. Schließlich fallen außerhalb des EURO-Raumes exorbitant hohe Gebühren für Überweisungen, bürokratischer Extras (Formulare usw.), Zeit sowie Währungsrisiken an.

Ich bitte diesen Kritikpunkt auch nicht auf reine Bequemlichkeit zurückzuführen. Die gemeinsame Währung ist schließlich ein Teil der Freizügigkeit, die wir innerhalb der Europäischen Union genießen, d.h. die Freiheit, den Lebens- und Arbeitsbereich selbst wählen zu können.

Abgesehen davon befinden sich auch Vorschläge in der Diskussion, zu denen mensch durchaus eine Meinung haben kann. Beispiel: Der heutige Presseclub (19.06.2011).

Da saßen wieder mal Journalist(inn)en zusammen, debattierten über die Rettung Griechenlandes und schienen sich tatsächlich darüber einig zu sein, dass sich die Banken freiwillig an den Kosten der Krise beteiligen müssen.

Hallo? Die Banken? Freiwillig? Geht's noch?! Smilie by GreenSmilies.com

Angesichts dessen, dass die Damen und Herren der Banken heute recht unbeeindruckt der Banken- undm Finanzkrise weitermachen, hat es schon eine Schildbürgerqualität, die Banken zur Freiwilligkeit aufzufordern. Wie bescheuert müssen die sein, sowas fordern? Oder: Für wie bescheuert halten die einen?

Was mir ebenso bitter aufstößt, ist dieses Gequatsche von der "geordneten Insolvenz". Da haben ein paar Leute Angst, dass dort "Chaos" ausbricht. Ja bitte, was für ein Chaos denn? Wenn die Griechen selbst das Hefter in die Hand nehmen, klar, dann ist das vielleicht nicht ganz so "kontrollierbar" für die EU. Da wäre dann vor allem für die hier ansässige Wirtschaft blöd. Klar. Aber Chaos?

Und überhaupt: Dieses ganze abstrakte Niveau. Wenn es wirklich um die Griechen ginge, warum begleitet mensch die Griechische Entwicklung nicht einfach mit einer Art Hilfsfond, der Gelder an von Bürgern organisierte Projekte ausschüttet? Direkt an der Basis ansetzen. Bestimmte Dinge dezentralisieren und Nachhaltigkeit fördern, z.B. kommunale Agrarbetriebe.

Und in dem Sinne stimme ich Spreng ausdrücklich nicht zu. Es ist nicht nur der Planlosigkeit und Unsicherheit der politischen Klasse geschuldet, dass wir in der Frage so rumeiern. Das Problem liegt in der mangelnden Originalität und dem geistigen Inzest der politischen Klasse. Aber was ist schon anderes von einer politischen Klasse zu erwarten, die in letzter Zeit vermehrt durch Plagiatierungen von sich Reden machte?