Samstag, 5. März 2022

Support the people, not governments

Es herrscht wieder Krieg. Und zwar in Europa. Kein innerstaatlicher Krieg, kein Bürgerkrieg, sondern die russische Armee marschierte in der Ukraine ein. Es wäre zu viel gesagt, zu behaupten, mich hätte das komplett aus der Bahn geworfen. Aber ich fühle mich ehrlich gesagt überfordert. So eine Situation habe ich bislang nicht erlebt.

Zunächst scheint wie immer die Kriegspropaganda anzulaufen: Der Konflikt erfährt eine personalisierte Zuspitzung, es wird psychologisiert, das Gegenüber als irre, nicht zurechnungsfähig usw. deklariert. Die andere Seite wird zum bewundernswerten Helden stilisiert. Das ist ein bekanntes Muster, mensch kennt vor allem den abwertenden ersten Teil vom Irren aus Bagdad (Hussein), dem »Schlächter des Balkans« (Milošević), dem Irren von Tripolis (Gaddafi)… Üblicherweise ist es die Endsequenz solcher Diktaturen, wo es nicht mehr um einen Dialog geht. Um Dialog soll es auch nicht mehr gehen, mensch braucht ein klares Feindbild. Aktuell lese ich nun auch vom irren, wahnsinnigen, drogenabhängigen usw. Putin. Putin der Lügner, der »den Westen« an der Nase herumführt und Regierungschefs dick in die Tasche lügt. Die News, die in den letzten Tagen in die sozialen Netzwerke gesetzt werden, sprechen davon, dass Putin sich zurückgezogen habe, er ideologische Sachen lese – das wirkt geradezu wie eine Reminiszenz von Hitlers letzten Tagen im Führerbunker. Und mehrmals ertappte ich mich bei dem Gedanken, ob mensch auch über andere Regierungschefs kriegsführender Länder – die USA, Frankreich, Deutschland … – in dieser Form in westlichen Medien schreiben würde. Sind es üblicherweise nicht immer »die anderen«, die so dargestellt werden?

Darüber hinaus ist zunehmend von einer Diskrepanz zwischen dem, was »Russ*innen« über den Krieg mit der Ukraine wissen oder denken, und dem, was uns über unsere Medien an Bilder, »Wahrheiten« usw. ins Wohnzimmer schwappt zu lesen. Russische Propaganda und Zensur (ntv).

Aber was, wenn das, was zu Putin behauptet wird, zum Teil stimmt? Von linker Seite her wird zunehmend betont, dass Putin einen nationalistischen und imperialistischen Großtraum verfolge, viele Linke das bislang nicht erkannt hätten und nun maßlos überfordert seien, weil sie Putin bisher in Schutz nahmen. Das mag schon so sein. Und wenn es so ist, ist das auch ein Punkt, in dem sich viele jener Marktliberalen bestätigt sehen mögen, die sich gerne als progressiv geben (wie verschiedentlich zum Beispiel von Grünen und vom Zentrum Liberale Moderne) und teils schon immer eine gewisse notorische Ablehnung gegenüber Russland an den Tag legten. Diese Ablehnung – vielleicht sogar Hass – wird gerne unter dem Schlagwort »Liberalismus« und »Freiheit« zu Markte getragen. Unter dem Strich scheinen es mir Ressentiments zu sein, die aus einem gewissen Marktfundamentalismus resultieren, in dem alles, was »westliche Werte« im Sinne von marktwirtschaftlichen Prinzipien wie Markt, Privateigentum usw. in Frage stellt, gnadenlos diskreditiert wird. Wenn Privateigentum und der Zugriff auf Ressourcen und Güter mal nicht im Wesentlichen in den Händen »des« marktliberalen »Westens« liegen, ist das für diese Leute ein Problem. Insofern mag diese marktfundamentalistische Perspektive mit ihrer Kritik an russicher Politik einmal Recht haben, es steckt aber eben immer noch marktapologetische Propaganda dahinter.

Davon abgesehen ist es eben auch so, dass wirtschaftliche und geopolitische Interessenblöcke aufeinandertreffen. Selbst wenn die russische Administration keine nationalen, imperialistischen Großträume pflegen würde und stattdessen brav einen innovativen Realsozialismus 2.0 zu realisieren versuchen würde, dann gäbe es doch immer noch unablässig Versuche westlicher kapitalistischer Gesellschaften, dies zu unterminieren. Und genau so liest sich doch die sogenannte NATO-Osterweiterung. Wie lange hat mensch denn geglaubt, dieses Spiel noch treiben zu können?

Diese Debatte wiederum überlagert sich mit der »alten« (linken) Debatte, die unreflektiert die russische Administration in Schutz nimmt. Auch das macht die aktuelle Debatte und Situation so schwierig.

Hinzu kommt, dass Kriegszeiten allgemein Propaganda-Zeiten sind. Propaganda gibt es von allen Seiten. Da werden im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Bilder gezeigt, die nicht verifiziert sind; es gibt wirklich üble Übersetzungsfehler (»Atom-Streitkräfte« statt »Abwehr-Streitkräfte«). (Via Uebermedien) Das ehemalige Nachrichtenmagazin macht eine romantische Love-Story von der Widerstands-Front und muss dann eingestehen, nicht gut recherchiert und einem Rechten und Ultranationalisten eine Bühne geboten zu haben (via lowerclassmag/twitter). In den Fällen muss mensch zugutehalten, dass die Fehler wenigstens erkannt und »beseitigt« wurden.

Aber mein Eindruck ist, dass mensch Propaganda immer nur für ein Produkt der Gegenseite hält. Mensch muss sich mal verschiedene Einträge bei FeFe anschauen und darf sich wundern, was bei »uns« kaum Erwähnung oder wenig angemessene Erörterung findet. Zwei Beispiele:

1.     Dass es rechte Netzwerke in der Ukraine gibt, wird zunehmend auch kurz angerissen, aber oft auch gleich wieder relativiert. Die Rechten hätten zunehmend weniger Zulauf usw. Aber wenn mensch sich mal die Auflistung bei FeFe anschaut – und das sind keine Schwurbellinks! – , dann kann schon der Eindruck entstehen, dass in »der« Ukraine ein recht strukturelles Problem besteht. Die Krone setzt dem Ganzen auf, dass Recherchen der ZEIT zeigen, wie dort Rechtsextreme – auch aus Deutschland – für den Widerstand abgeworben werden (via Twitter). Und nein, das heißt nicht, dass dort alles Nazis sind und das einen Überfall rechtfertigt. Es bedeutet aber eben auch nicht, dass alles so problemfrei ist (erst recht, wenn der jetzige Präsident kürzlich noch rechte Militärs auszeichnet).

2.    Im Zuge der Sanktionen gegen Russland ging es auch gegen russische Oligarchen. Dass es auch in der Ukraine Oligarchen gibt, scheint kaum eine Erwähnung wert. Dabei liegt die Debatte um neue Panama-Papiere nicht einmal lange zurück. Überraschung: Der jetzige Präsident Selenskyj war in dem Kontext auch erwähnt worden (Länder-Analysen).

Vielleicht noch ein Punkt: Es wurde mit Schrecken darauf reagiert, dass Putin angeblich Atomwaffen einsetzen würde. Zur Wahrheit gehört wohl aber auch das, was im letztes Jahr in einem Interview mit der ehemaligen Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer zu erfahren war: Dass nämlich seitens der NATO über ein nukleares Abschreckungsszenario gegenüber Russland nachgedacht wurde. Konkret hieß es dazu…

»Die Agentur Reuters berichtet heute Früh, dass die NATO über regionale Abschreckungsszenarien für die baltische und auch die Schwarzmeer-Region nachdenke, auch möglicherweise im Luftraum mit Nuklearwaffen. Ist das der Weg der NATO?

Kramp-Karrenbauer: Das ist der Weg der Abschreckung. Wir müssen Russland gegenüber sehr deutlich machen, dass wir am Ende – und das ist ja auch die Abschreckungsdoktrin – bereit sind, auch solche Mittel einzusetzen, damit es vorher abschreckend wirkt und niemand auf die Idee kommt, etwa die Räume über dem Baltikum oder im Schwarzmeer NATO-Partner anzugreifen. Das ist der Kerngedanke der NATO, dieses Bündnisses, und das wird angepasst auf das aktuelle Verhalten Russlands. Wir sehen insbesondere Verletzungen des Luftraums über den baltischen Staaten, aber auch zunehmende Übergriffigkeiten rund um das Schwarze Meer.« (Deutschlandfunk, 21.10.2021)

Mensch könnte sicher noch weitere Dinge finden. Und nein, bevor mir das jemand in den falschen Hals bekommt: Das rechtfertigt keinen Angriff wie auf die Ukraine und das relativiert auch nicht, was dort gerade passiert. Ich finde nur, dass wenn mensch sich mit »westlichen Werten« weit aus dem Fenster lehnt, sollte mensch dann auch diese Dinge sachlich thematisieren und dann entsprechende Konsequenzen ziehen.

Was aber stattdessen zu erleben ist, ist eine gewisse Kriegseuphorie, die »woke« und »grüne« Pazifisten werden dafür verantwortlich gemacht, dass Verteidigung und Militär eher so keine großen Themen waren, es ist von Aufrüstung die Rede, von der Wiederaktivierung der Wehrpflicht und einer Dienstpflicht… Es gibt in den sozialen Netzen und in den öffentlichen Medien derzeit unglaublich viele, die am heimischen Bildschirm Feldherr spielen oder den Küchenpsychologen mimen. Tja und dann kann einem schon einmal im öffentlich-rechtlichen Fernsehen der Rassismus von der Kette gehen (kritisch dazu Uebermedien).

Es scheint mir aktuell unheimlich schwer, sich halbwegs gut zu informieren. Dabei geht es mir noch nicht einmal darum, dass alles schön »objektiv« daherkommen muss. Aber das Ausmaß an »groupthink«, Überforderung, Ressentiments… das überrascht mich negativ; das ist befremdlich. Öffentlich-rechtliches Fernsehen, Kolumnen oder auch Twitter scheinen Einzelnen teils auch therapeutisches Mittel der Verarbeitung der aktuellen Situation zu sein. Auch das: befremdlich.

Vereinzelt gibt es aber auch sachliche Kommentare, die zur Differenzierung und zum Nachdenken einladen. So der Kommentar von Daniel Lücking zu den geplanten Waffenlieferungen an die Ukraine: »Historische Fehler« (ND). Lücking macht dort u.a. darauf aufmerksam, dass es eben auch ein Problem ist, Zivilbevölkerung mit Waffen auszustatten, da sich der Waffengang nicht in ein paar wenigen Tagen erlenen lässt, Waffen daher eine Gefahr für sich und andere darstellen und Zivilbevölkerung mit Waffen »als Kombattant*innen im Konflikt« gelten: »Das macht sie in erster Linie zu einem legitimen Ziel für die russischen Soldat*innen.«

Kritisch ergänzen könnte mensch, dass die geplanten Waffenlieferungen auch mit Blick darauf ein Problem sind, dass Rechtsextreme aus unseren Breiten für den Widerstand abgeworben werden. Mensch könnte sich damit im schlimmsten Falle also ein ganz erhebliches Sicherheitsrisiko im eigenen Land einhandeln. Und darüber hinaus regt der Hinweis von Lücking dazu an, die Rolle des ukrainischen Präsidenten vielleicht auch etwas kritischer zu bewerten als es bisweilen geschieht. Auf Twitter wurde ja bereits kritisiert, dass Männern zwischen 18-60 Jahren – also im kampffähigen Alter – die Ausreise aus der Ukraine untersagt worden sei (siehe z.B. heute.at). In dem Kontext hat auch die geforderte militärische Unterstützung mit Waffen einen bitteren Nachgeschmack, erst recht, wenn bedacht wird, dass viele Kommentare die Ukraine dem russischen Militär als heillos unterlegen ansehen.

Ich schätze, dass es in dem Kontext nicht die beste Idee ist, einen Konflikt mit Waffenlieferungen oder der Aussicht auf Waffenlieferungen anzuheizen (siehe z.B. Augsteins Argumentation im Freitag). Müsste »Unterstützung« hier nicht vielleicht eher als diplomatische Unterstützung in Erscheinung treten? Nun wird die Aufnahme der Ukraine in die EU diskutiert. Aber wenn ich mir die Koppenhagener Kriterien für einen EU-Beitritt anschaue, dann könnte es schon mit den politischen Kriterien kritisch werden und beim wirtschaftlichen Kriterium (insb. bzgl. Wettbewerbsdruck im EU-Binnenmarkt) müsste mensch auch schauen. Ist das also nur eine Schnapsidee?

In der Summe ist das alles eine ziemlich undurchsichtige Situation. Und ehrlich gesagt hadere ich innerlich, mich der Kriegseuphorie anzuschließen. Auch die geradezu vorbehaltlose Begeisterung für die Ukraine und deren Präsidenten erscheint mir suspekt. Mit der Soli-Bekundung der Moscow Death Brigade kann ich da schon wesentlich mehr anfangen: »Don't support states and regimes with their nationalistic agendas and warmongering - support the people. Fuck war. Stand for peace regardless of your nationality, ethnicity and religion.«

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