Montag, 27. Februar 2012

Presseschau: "Bürgerrechtler"

Die unsägliche Gauck-Posse hat in den letzten Wochen gar eigenartige Blüten getrieben. Besonders eigenartig wirkte auf mich die Kritik an der Gauck-Kritik. 

Angestoßen wurde diese offenbar durch einen besonders engagierten Beitrag aus dem Umkreis der Karlshochschule: Dort wurde den Gauck-Kritiker(inne)n vorgeworfen, dessen Aussagen aus dem Kontext gerissen zu haben. Möglicherweise wäre der Beitrag in den Untiefen des Netzes versunken, wenn ihn Sascha Lobo in seiner Spiegel-Kolumne nicht ausgegraben hätte. Tja, der Lobo wieder mal. Den halten unsere netz-aversen Zeitgenoss(inn)en offenbar für einen besonderen Internet-Experten. Überzeugen konnte er allerdings nur die, die begierig das positive Bild ihres Gaucks retten wollten.

Zugegeben, mit "Ein Stinkstiefel namens Gauck" hatte Deniz Yücel (taz) deftige Töne angeschlagen. Aber das, was er schrieb, sollte er sich das nur aus den Fingern gesogen haben? Eher nicht. Auf die Kritik an der Gauck-Kritik reagierte "das Netzt" prompt und zeigte, das die Aussagen von Gauck auch "im Kontext" kritikwürdig blieben. Nachzulesen ist das u. a.


Ein Stein des Anstoßes war die Kritik, dass Gauck die NS-Zeit bzw. das NS-Regime verharmlose, was dann wiederum zum Anlass genommen wurde, Deniz Yücel vorzuwerfen, er hätte behauptet, Gauck würde den Holocaust leugnen. Bei Maybrit Illner war es dann Herr Trittin, der Ines Pohl, der Chef-Redakteuse bei der taz, genau das als "Schweinejournalismus" unter die Nase zu reiben versuchte.

An der Stelle noch ein Einwurf: Von Frau Pohl hätte ich erwartet, dass sie sich stärker hinter Deniz Yücel stellt, statt sich mit dem Hinweis auf den persönlichen Meinungscharakter eines Kommentars und der verfassungsrechtlichen Gewährleistung von Meinungen aus der Affaire zu ziehen! Mir ist natürlich klar, dass sie mit seiner Verteidigung ein vermintes Feld betreten hätte und ob ihr das geglückt wäre, ist noch eine ganz andere Geschichte. Sich aber bereits im Vorfeld in den Teflon-Weichspülmodus zu begeben, das ist arm. Ich hätte da mehr Courage erwartet!

Wie dem auch sei, Deniz Yücel reagierte auf die Vorwürfe in der taz. Dass seine Kritik nicht aus der Luft gegriffen war, lässt sich übrigens in einem älteren Beitrag von Karl D. Bredthauer nachlesen ("Yes, we Gauck!?", Blätter für deutsche und internationale Politik).

Gaucks Aussagen sind für mich die eine Geschichte. Die andere Seite ist, dass die etablierten Medien und die Politiker den Gauck mit dem Nimbus des "Bürgerrechtlers" herumreichen.

Mit Franziska Augstein lässt sich daran aber zweifeln. Deutlichere Worte fand der frühere Bürgerrechtler und Grünen-Politiker Hans-Jochen Tschiche im Freitag:

"Er [Gauck, Anm. d. Verf.] hat niemals zur DDR-Opposition gehört, deren Akteure man im heutigen Sprachgebrauch Bürgerrechtler nennt. Er verließ erst Ende 1989 die schützenden Mauern der Kirche und kam über das Neue Forum in die Volkskammer".

Wenn mensch den Gauck mit Leuten wie Friedrich Schorlemmer vergleicht, der seit 1968 aktiv war, Schwerter zu Pflugscharen schmiedete und es sich auch heute nicht bequem macht, dann wirkt die Behauptung, Gauck wäre "Bürgerrechtler" fast schon wie eine Entwertung des Begriffes.

Der Vergleich mit Schorlemmer ist deshalb interessant, weil dieser ebenfalls ein Mann des Glaubens ist, dem - im Gegensatz zu Gauck - seine humanistische Einstellung aber deutlich anzumerken ist. Nicht ohne Grund kritisierte Schorlemmer, dass Gauck in seinem Freiheitsbegriff die Gerechtigkeit vernachlässige.

Wolfgang Lieb von den Nachdenkseiten hatte Gaucks Gesellschaftsbild daher ganz richtig dem marktliberalen Denken von Friedrich August von Hayek zugeordnet. Entsprechend darf es nicht verwundern, wenn bei Gauck immer ein gewisser, verächtlicher Ton mitschwingt, wenn er sich zum Sozialstaat äußert, z. B. wenn er in dem Zusammenhang vom paternalistischen Verteilen sprach. Insofern habe ich ein Problem damit, eine Person, die - wie Schorlemmer richtig sagte - so "monothematisch" auf den Freiheitsbegriff festgelegt ist und diesen Begriff so blind auslegt wie Gauck, als "Bürgerrechtler" gelten zu lassen.

Dummerweise werden wir aber sehr wahrscheinlich in den Geschichtsbüchern über Gauck lesen, dass mit ihm ein "Bürgerrechtler" ins Amt des Bundespräsidenten kam.

Wie dem auch sei. Angesichts der Kritik an Gauck und der Kritik an der Gauck-Kritik kann ich mich nur Tom anschließen, der dazu schrieb:

"Auch nachdem ich die vollständigen Aussagen Gaucks zu verschiedenen Themen gelesen habe, rezipiere ich deren Inhalt nicht viel anders. Folgender Eindruck bleibt: Die fehlende Distanz zu Thilo Sarrazins Thesen, die Befürwortung der Agenda-Politk inklusive 'Hartz4', die abfälligen Bemerkungen zur Occupy-Bewegung und die Bagatellisierung der Überwachung durch die Vorratsdatenspeicherung. Von einem Bürgerrechtler habe ich andere Vorstellungen" (Toms Wochenschau).

Ähnliches findet sich bei Jackob Jung formuliert, der übrigens auch über das Schindluder mit den Umfragen zu Gaucks Kandidatur schrieb. Rein sachlich war die Kritik an der Gauck-Kritik also ein ziemlicher Schuß in den Ofen, was in den etablierten Medien natürlich nicht wirklich zur Kenntnis genommen wurde. Entgegen dem dort gezeichneten Bild der twittergeschädigten Generation Netz finden sich im Internet viele fundierte Kommentare, die eher zum Surfen anhalten, statt das geduldige Papier der Zeitungen zu blättern.

Abschließend: Auch ich kann sagen, dass Gauck nicht mein Präsident sein wird. Statt einen progressiven Ideengeber, werden wir nun einen Präsidenten bekommen, der uns den Protestantischen Arbeitsethos eintrichtert. Den sozialen Randgruppen wird damit eine geradezu masochistische Askese abgefordert, schließlich sei jeder seines/ ihres Glückes Schmied. Mit seiner Freiheitsideologie wird Gauck eher der Zementierung sozialer Verhältnisse Vorschub leisten, als soziale Verwürfnisse zu benennen. Gauck als Bundespräsident besitzt den morbiden Geschmack eines neoliberalen Wiedergangs.