Sonntag, 26. Februar 2017

Mal wieder: Vegetarismus

Kürzlich bin ich „drüben“ auf Charlies Narrenschiffbrücke in einer Diskussion wieder einmal auf das Thema Vegetarismus gestoßen. Sinngemäß ging es dort um Vorbehalte gegen sich vegetarisch ernährende Menschen; und dass diese Vorbehalte auch gerne mit weiteren negativen Assoziationen verbunden werden (wie z. B. „Gutmensch“). Die weiteren Details können an dieser Stelle vernachlässigt werden. Ich brech‘ das an dieser Stelle einfach mal darauf herunter, dass Menschen, die sich vegetarisch ernähren, diskriminiert werden. Nun mang mensch einwenden, dass sich in den letzten Jahren viel getan habe. Das ist richtig. Und sicher lässt sich auch von einem vegetarischen Lifestyle und diesbezüglich von einer industriell-marktwirtschaftlichen Lifestyle-Industrie sprechen. Das muss auch nicht jedem Menschen schmecken, der sich vegetarisch ernähren will. Aber positiv ist es schon, dass Vegetarismus heute breiter akzeptiert ist als das zu meiner Jugendzeit der Fall war. Trotzdem der Vegetarismus nun also im „Mainstream“ angekommen scheint, gibt es dennoch immer noch diskriminierendes Verhalten. Ich habe das persönlich eben erst wieder erlebt, weshalb ich mir dann doch mal erlauben will, die Diskussion auf der Narrenschiffbrücke zum Anlass zu nehmen, ein paar Zeilen darüber zu schreiben.


Vorbemerkungen

Vorwegschicken möchte ich, dass ich mich seit ca. 2007/2008 vegetarisch ernähre. Es gibt viele verschiedene Gründe, warum sich ein Mensch vegetarisch ernährt und wie bzw. bis zu welchem Grad (streng vegetarisch ist das, was im Volksmund fälschlicherweise als „vegan“ bezeichnet wird). Das muss auch nicht monokausal mit nur einem Grund zusammenhängen. Von einer „ernährungstheoretischen“ Argumentation halte ich nicht viel. Ökonomische und ökologische Gründe sind für mich allenfalls interessante Hilfsargumente. Ich habe eher ethische Gründe, aus denen heraus ich mich vegetarisch (aber nicht streng vegetarisch) ernähre.

Ich bin dabei aber kein Missionar, der durch die Welt läuft, um anderen den eigenen Lebensstil aufzuzwingen. Mir ist durchaus bewusst, dass es andere Lebensstile gibt und mit denen kann ich leben bzw. mich arrangieren. Von Menschen, die meinen, ihre ethischen Gründe anderen Mitmenschen mit Schlachtbildern u. ä. ins Bewusstsein zu hämmern, halte ich absolut nichts. Ich lehne das auch als Belästigung und Psychoterror ab. (Ich habe keine Lust, in Kauf zu nehmen, Kinder mit sowas zu traumatisieren!) Ich kann mich also durchaus mit Leuten, die Tiere essen, am Esstisch normal unterhalten. Diese Toleranz erlebe ich aber selten mir gegenüber; zwar wird „formal“ Rücksicht auf mich genommen, dennoch tauchen selbst in „toleranten“ Kreisen immer wieder Diskriminierungen auf.

Fleisch- und Wurstersatz?

Ein ganzer Komplex von Diskriminierung, den ich den letzten Jahren immer wieder erlebe, hängt mit den Fleisch- und Wurstersatz-Produkten zusammen, die es mittlerweile aus den Nischenläden heraus in die Supermarktketten und Discounter geschafft haben. Ich habe das jetzt nicht recherchiert, aber ich vermute mal, dass diese Produkte auch in der vegetarischen Szene nicht unstrittig sind. Schließlich sind das Fleisch- und Wurstimitate: Zeugt es da nicht von Doppelmoral, wenn sich vegetarisch ernährende Menschen Produkte kaufen, die genau das imitieren, was sie eigentlich nicht essen wollen?

Hier sage ich ganz klar: Nein. Und dafür gibt es mehrere Gründe.

Erstens ist es so, dass wohl die wenigsten Vegetarierinnen und Vegetarier in einem vegetarischen Haushalt aufwachsen. So werden wir mit bestimmten Fleisch- und Wurstprodukten groß: Das fängt bei der Kartoffelsuppe mit Bockwurst oder Frankfurter/Wiener an, geht über Spaghetti mit Fleischklößchen und hört beim „Grillgut“ im Sommer schon längst nicht auf. Es ist deshalb verständlich, wenn Menschen die sie kulturell prägenden Geschmackserlebnisse (wieder) realisieren möchten. Ihnen seitens der Tiervertilger die Suche nach der Realisierung dieser Geschmackserlebnisse abseits von Tierprodukten anzukreiden, das ist eine reichlich heuchlerische Rechtfertigung des eigenen Tierkonsums. Und seitens der Vegetarierinnen und Vegetarier erscheint mir diese Kritik ebenfalls etwas realitätsfern und fast schon als Versuch, päpstlicher als der Papst sein zu wollen.

Denn zweitens ist es doch so: Wenn diese Imitate ähnliche Geschmackserlebnisse liefern wie Tierprodukte, warum muss dann überhaupt ein Tier leiden? Das ist auch der Knackpunkt, der seitens der vegetarischen Kritik an den Tierprodukt-Imitaten ins Auge gefasst sein sollte: Es zeigt nämlich, dass wir traditionelle Gerichte auch ohne Tierleid erzeugen können und es eigentlich nie notwendig gewesen wäre – und nicht mehr notwendig ist – ein Tier umzubringen, um ein entsprechendes Geschmackerlebnis zu haben.

Dieser Umstand verschärft sich dadurch, dass vor allem der Geschmack von Wurst auch eine Frage der Würzung ist und das Tierprodukt mit dem eigentlichen Tier nur noch wenig zu tun hat. Das Tier ist doch dort gar nicht mehr erkennbar (anders als beim Steak, Schnitzel usw.). Haben wir dann also nicht von vornherein bereits ein ebenso „künstliches“ Produkt, wie es den Tierprodukt-Imitaten vorgeworfen wird? Im Grunde, so lässt sich argumentieren, würden wir ja beim Imitat nur eine Trägermasse einsetzen, die kein Tierleid verursacht. Warum sollten wir also Tiere töten, wenn es auch ohne geht? Letzteres ist auch ein gutes Argument bezogen auf die obige Frage, wie es sich unter vegetarischen Gesichtspunkten rechtfertigen lässt, Tierprodukte zu imitieren. Die Antwort ist schlicht, dass es sich bei den imitierten Tierprodukten oft ohnehin um Produkte handelt, die mit dem eigentlichen Tier nicht mehr viel zu tun haben.

Nun möchte ich an dieser Stelle einräumen, dass es meiner Erfahrung nach nur wenig Tierprodukt-Imitate gibt, die ich als geschmacklich in Ordnung klassifizieren würde. Die Vielzahl an Produkten – angefangen vom Seitansteak über diverse Frankfurter/Wiener und Bratwürste – beschert weder ein „Geschmack wie früher“-Erlebnis noch gelingt es ein prinzipielles Geschmackserlebnis hervorzurufen. Streng vegetarisch sind die Produkte, die ich geschmacklich als in Ordnung einstufen würde, allesamt nicht: irgendwie ist immer ein Milchprodukt oder Ei mit drin. Für sich streng vegetarisch ernährende Menschen ist das also nichts. Alle anderen sich vegetarisch ernährenden Menschen müssen lange suchen und probieren. Nicht selten ziehe ich persönlich dann auch eine rein vegetarische Variante von bestimmten Gerichten vor (also ohne Tierprodukt-Imitate).

Das allerletzte jedoch, was ein Mensch, der sich vegetarisch ernähren möchte und sich auf die Suche nach Tierprodukt-Imitaten begibt, gebrauchen kann, das sind hämisch blöde Kommentare von Fleischvertilgern, wenn es mal wieder nicht so schmeckt. Damit beginnt bereits das diskriminierende Verhalten. Ganz besonders blöd wird es, wenn diese sich anschicken, auch mal unbedingt probieren zu müssen, um dann fast schon kalulierbar mit noch blöder Grimasse zu Protokoll geben zu müssen, dass das nichts mit totem Tier zu tun habe und (deshalb) nicht schmecke.

Die üblicherweise weiter gehende Form wirft dann die obige Frage auf: Du bist doch Vegetarier, warum willst Du unbedingt eine Wurst essen? Wie ich eben versucht habe, zu zeigen, geht diese Frage zielstrebig am Kern der vegetarischen Sache vorbei und zeugt eher vom Reflexionsniveau einer im Winterschlaf befindlichen Amöbe. Also nochmal: Wenn ich Wurstgeschmack ohne Tier haben kann, dann war und ist das tote Tier nicht notwendig. Es geht um die Vermeidung von Tierleid und im glücklichsten Falle um den pädagogischen Effekt, darzustellen, dass es auch ohne totes Tier geht.

Es gibt aber noch eine andere „schöne“ Diskriminierungsform. Sobald eine vegetarische Wurst auf dem Tisch liegt, entdecken Fleischvertilger auf einmal das Ernährungsbewusstsein. Leute, die nie auf die Idee kämen, nach den Inhalt ihrer Tierwurst zu fragen, checken dann erstmal, was in der vegetarischen Wurst drin ist. Das läuft dann üblicherweise darauf hinaus, sich über das Imitat aufzuregen: Was da alles verarbeitet wurde, das kann ja nicht gesund sein. Wie gesagt, komisch ist, dass von denen niemand, aber auch wirklich niemand im Gegenzug auf die Idee käme, bei der regulären Wurst einmal nachzufragen, was konkret drin ist. Das dürfen sich nur Vegetarierinnen und Vegetarier anhören; und die dürfen sich dann auch dafür rechtfertigen, warum sie quasi nur eine Fettpampe zu sich nehmen. Ganz so, als ob reguläre Wurst ohne Fett auskäme und die reinste Gesundkur sei.

Letzteres wird den Fleischvertilgern nicht immer bewusst sein, aber genau dieses Verhalten wirkt auf Vegetarierinnen und Vegetarier wie mich diskriminierend. Und zwar vor allem deshalb, weil dabei ein Doppelstandard bzw. eine Doppelmoral zum Ausdruck kommt. Kommen vegetarische Produkte auf den Tisch, spielt auf einmal der Inhalt eine Rolle, der aber kaum jemanden interessiert, wenn Tierprodukte auf den Tisch kommen.

Das ist auch deshalb ärgerlich, weil das Züge einer Gegen-Missionierung annehmen kann. So nach dem Motto: Sieh’s doch ein, das Tierprodukt-Imitat ist nicht gesund, das ist nur schädlich. Zumindest schwingt das im Unterton häufig mit. Und weil ich selbst gar nicht missioniere, möchte ich mir solch einen wohlmeinenden Paternalismus verbitten. Viele sich vegetarisch ernährenden Menschen haben sich auch mit Ernährung beschäftigt. Die brauchen keine Nachhilfe von Leuten, die sich auf eine Weise ernähren, mit der Vegetarierinnen und Vegetarier in der Regel und begründet gar nichts anfangen können. Und das gilt erst Recht, wenn ich mir selbst nicht rausnehme, den Leuten am Tisch den Konsum ihrer Tierprodukte zu versauen. Würde ich im Gegenzug die reichlich mit Fleisch und Wurst gedeckten Tisch durch Schlachthausbilder, entsprechenden Videos von Massentierhaltung etc. garnieren, dann wäre ich auf einmal der militante Typ, der einem den Spaß am Geschmack versaut. Also einfach mal nachdenken: Kant, was Du nicht willst und so. Alles klar?

Die Sache mit der Rücksicht

Obwohl sich in den letzten Jahren bezogen auf Vegetarismus viel getan haben mag und die Sensibilität für Vegetarismus zweifelsohne gestiegen ist, lässt sich immer noch ein Mangel an Rücksicht erleben.

Da ist z. B. der Raclette-Abend mit zwei Raclette-Grills. Statt nun einen Raclette rein vegetarisch zu halten und den anderen für Fleisch vorzusehen, habe ich kürzlich wieder erlebt, wie beides mit Fleisch belegt wird. So richtig toll ist dann der O-Ton, die vegetarischen Sachen können doch auch neben dem Fleisch gebraten werden.

Nein, das können sie für viele Vegetarierinnen und Vegetarier ganz klar nicht. 

Würde ich mit Fisch kommen, käme sicher auch kaum jemand auf die Idee, auf beiden Platten Fisch und Fleisch zu braten. Und wenn eine Hälfte der Platte auf wirklich ekelerregende Weise verschmutzt wäre (z. B. durch einen Vogel, der etwas fallen lässt), dann würde die gesamte Grillplatte erstmal gereinigt werden, statt auf den „sauberen“ Stellen zu grillen. Der letzte Hinweis mag überzogen erscheinen, aber mir ist der deshalb wichtig, weil Fleisch auch Ekel verursachen kann. Mir geht’s bisweilen so. Also auch hier: Einfach mal Kant, Kategorischer Imperativ, was Du nicht willst und so.

Rücksichtslos empfinde ich auch diese konservativen Querulanten, die in jedem vegetarischen Gericht in der Mensa einen Angriff auf ihre Konsumfreiheit wittern und entsprechend hysterisch vom Untergang des Abendlandes faseln. Wenn die dann aus Protest am Veggie-Tag einen Grillwurst-Stand vor der Mensa aufbauen, dann hat das eine unfreiwillige Komik. Ich kann darüber lachen. Solche Intoleranz und Borniertheit lässt sich auch nur mit Humor ertragen. Denn diese Leute versuchen ja noch nicht einmal Ansatz, die Perspektive der Gegenseite einzunehmen, die wiederum tatsächlich mit Freiheitseinschränkungen zu tun hat: nämlich der Freiheit, sich vegetarisch zu ernähren. Ich schreibe das, weil ich zu Studienzeiten erlebte, dass sich das Angebot an vegetarischen Speisen in einem sehr überschaubaren Raum bewegte und fast nicht existent war. Von Vielfalt oder Auswahlmöglichkeiten möchte ich gar nicht erst beginnen. Da war ich als Vegetarier ganz fundamental in meiner „Freiheit“ eingeschränkt. Zum Glück hat sich da schon viel geändert. Manches geht aber auch nach hinten los.

Denn übel ist auch, wenn vegetarische Gerichte nur dem Prinzip folgen, Fleisch wegzulassen und durch Gemüse aufzufüllen. Das heißt, dass es dann in der Mensa oder Kantine nicht Reis mit Gulasch auf Letscho-Basis gibt, sondern nur Reis mit Letscho. Oder wenn Fleischbällchen usw. durch Gemüseleibchen ausgetauscht werden – Gemüseleibchen, die gefühlt in jedem zweiten vegetarischen Gericht auftauchen, völlig losgelöst davon, ob das überhaupt Sinn macht (weil das Gemüseleibchen aufweicht) oder in der Zusammenstellung schmeckt. Dass mit Liebe auch vegetarisch gekocht, gebacken und gebraten werden kann, hat sich noch nicht überall herumgesprochen. Bisweilen habe ich auch das Gefühl, dass manche Kantine oder Mensa offenbar das Ziel verfolgt, die Vegetarierinnen und Vegetarier durch schlechte vegetarische Kost wieder auf den Pfad zum Konsum von Tierprodukten zu führen.

Zum Abschluss hier noch der Klassiker der Rücksichtslosigkeit: Stellen wir uns kurz eine Veranstaltung mit Buffet vor, z. B. ein Gewerkschaftstreffen, einen Vortrag oder eine Filmpremiere. Prima ist, dass solche Buffets heute in aller Regel mindestens irgendeine vegetarische Speise beinhalten, i.d.R. sind das (verschiedene) Käsebrötchen (Brie, Schnittkäse usw.). Genau die sind aber meistens als erstes weg. Die stopfen sich nämlich die Fleischvertilger, die sonst immer ihre Freiheit bei Veggie-Angeboten bedroht sehen, rein. Das ist schon echt bezaubernd, wie diese auf Fleisch fokussierten Menschen dann auf einmal ihre vegetarische Ader entdecken. Eine Vegetarierin oder ein Vegetarier kann auf solche vegetarischen Anwandlungen ganz gerne verzichten. Also, liebe Fleischvertilger, beim nächsten Buffet nochmal nachdenken, ob der Griff zur Käsesemmel wirklich sein muss, denn die mag für die Vegetarierinnen und Vegetarier dort liegen. Wie schon mehrfach erwähnt, Kant, Kategorischer Imperativ und so.

Schlussgedanken

Wenn ich mich so an meine Zeit als Heranwachsender erinnere und diese mit heute vergleiche, dann darf ich durchaus feststellen, dass sich in Sachen „Vegetarismus“ durchaus viele Sachen zum Positiven gewendet haben. Du wirst heute weniger schräg angeschaut, wenn Du Dich vegetarisch ernährst. Für streng vegetarische und vegetarische Produkte musst Du nicht mehr ins Reformhaus oder in irgendeinen abgelegenen bzw. schwer erreichbaren Stadtteil. Diese Dinge haben es heute meist in den lokalen Supermarkt um die Ecke geschafft. Das Internet ist voll von vegetarischen Kochrezepten. Es gibt zahlreiche alternative Möglichkeiten, auf Tierprodukte zu verzichten. Darüber hinaus existiert eine ganze Bandbreite an Veggie-Produkten.

Wer aber meint, dass heute alles ach so liberal eingestellt ist, nur, weil sich im Regal des Supermarkts eine Veggie-Wurst befindet, ist falsch gewickelt. Es gibt sie noch, die diskriminierenden Situationen, auf die ein(e) Veggie sehr gut verzichten kann. Also, das nächste Mal, wenn ein Imitat eines Fleischprodukts zu einem Kommentar ermuntert, dann tu‘ den Veggies einen Gefallen und schluck ihn einfach runter: Dass das Produkt nicht schmeckt, das weiß der/die Veggie dann wahrscheinlich selbst. Und wenn das Gegenteil der Fall ist, magst gerne mal kosten, aber spar‘ Dir die Kommentare, die das Imitat mit Tierprodukten vergleichen. Tja und wenn Du als Fleischvertilger demnächst mal wieder am Buffet stehst, nimm‘ doch erstmal die Salami- oder Schinkensemmel – die sind für Dich da. Kant und Imperativ, ihr wisst schon. In dem Sinne, Peace!

8 Kommentare:

Charlie hat gesagt…

@ Arbo: Mit Verlaub - aber diesen Text halte ich für einen sehr typischen "Mimimi"-Beitrag, der niemandem weiterhilft.

Ich halte das Thema generell für einen der üblichen Nebenschauplätze, die insbesondere dem "divide" dienen, zur notwendigen Systemkritik aber nichts beitragen. Ich möchte das an einem einfachen Beispiel illustrieren: Da ich bekennender und passionierter Käseliebhaber bin, ernte ich seit Jahrzehnten immer wieder missbilligende Blicke, rümpfende Nasen und abfällige Bemerkungen über die Geruchsintensität meiner bevorzugten Käsesorten, was mich aber nie davon abgehalten hat, diese zu ignorieren und lächelnd und herzhaft in mein Brötchen oder Baguette zu beißen. Es war immer so und wird vermutlich auch ewig so bleiben, dass Geschmäcker verschieden sind - und wenn ich "Stinkkäse", Knoblauch oder meinetwegen ein Steak esse, dann stehe ich einfach darüber und genieße meine Speise. Ich käme nicht im Traum auf den Gedanken, mich dadurch "diskriminiert" zu fühlen oder gar zu fordern, dass in Restaurants, Mensen oder wo auch immer bitte schön nicht nur Brötchen mit dem üblichen industriell erzeugten Käseersatz, sondern auch "deftige" Sorten angeboten werden müssen. Wenn das, was ich gerne esse, nicht angeboten wird, gehe ich eben nicht dahin, sondern weiche, wenn möglich, aus - oder ich bringe mir etwas zu essen mit. Im Notfall - und auch das ist mir schon des öfteren passiert - esse ich eben nichts, sondern warte, bis ich wieder zuhause oder eben an einem Ort bin, wo ich Nahrung bekomme, die mir schmeckt. - Die Mensa meiner ehemaligen Uni habe ich beispielsweise so gut wie nie aufgesucht, weil dort für mich (!) in der Regel alles furchtbar schmeckte - unabhängig davon, ob es vegetarische Gerichte waren oder nicht. Viele andere sahen das anders, der Laden war stets gut gefüllt.

Wieso ist das ausgerechnet beim Thema Vegetarismus so schwierig? Ich habe die längste Zeit meines Lebens mit Vegetariern zusammengelebt und niemals irgendwelche Probleme dieser Art gehabt. Ich wurde nicht "missioniert" und habe selbst nicht zu "missionieren" versucht - ausgenommen die Fälle, in denen ich beispielsweise eine neue Käsesorte entdeckt hatte und diese anderen KäseliebhaberInnen gegenüber entweder angepriesen oder ihnen davon abgeraten habe. Ein ganz normaler Vorgang im zwischenmenschlichen Miteinander, wie ich finde. Einem Vegetarier, der gelegentlich auch Fisch isst, habe ich mal ein Fischrezept empfohlen - und meinerseits habe ich schon eine Menge vegetarischer Rezepte von Freunden und Bekannten bekommen, von denen ich nicht wenige seitdem immer wieder genussvoll zubereite.

Weshalb machst Du so ein Aufheben um dieses aus meiner Sicht völlig absurde Thema - und wieso zur Hölle sollte ein Mensch, der auch Fleisch isst, nicht mit Vorliebe Käsebrötchen verspeisen, wenn sie angeboten werden? Ist das - laut Deiner Logik - nicht ebenfalls "diskriminierend"?

Im Übrigen irrst Du dich gewaltig, wenn Du tatsächlich der Meinung bist, "alle" oder meinetwegen auch nur "viele" Fleischesser interessierten sich nicht dafür, aus welchen Inhaltsstoffen die Nahrung besteht, die sie zu sich nehmen. Es gibt Menschen, die legen großen Wert darauf - völlig egal, ob sie sich nun vegetarisch ernähren oder nicht. Und ebenso gibt es Menschen, denen ist das gleichgültig oder sie achten aus anderen Gründen (beispielsweise aufgrund von Armut) nicht darauf.

Nichts für ungut - ich lese hier ja sehr gerne mit -, aber dieses immer wieder neu aufgewärmte, abstruse Thema, das nie zu enden scheint, ruft bei mir immer wieder nur Kopfschütteln hervor. - Ein Hoch auf die Toleranz - und damit meine ich insbesondere auch die eigene Fähigkeit, hämischen, spöttischen, "missionierenden" oder sonstwie abfälligen Bemerkungen diverser ZeitgenossInnen bezüglich des eigenen Essverhaltens mit einem Lächeln und Achselzucken zu begegnen.

Liebe Grüße!

Charlie hat gesagt…

P.S.: Zum Abendessen aß ich gestern: Ein Brötchen, belegt mit eingelegten, geschnittenen Knochlauchzehen (sehr geruchsintensiv, sehr gesund, sehr lecker), und ein weiteres Brötchen, belegt (bzw. eher bestrichen) mit altem, zerlaufendem Ziegen-Camembert (sehr geruchsintensiv, weniger gesund, dafür doppelt so lecker). :-) Angeekelte Kommentare gab es diesmal nur deshalb nicht, weil ich allein speiste.

Fluchtwagenfahrer hat gesagt…

Moin Arbo,
"Tja und wenn Du als Fleischvertilger demnächst mal wieder am Buffet stehst, nimm‘ doch erstmal die Salami- oder Schinkensemmel – die sind für Dich da. Kant und Imperativ, ihr wisst schon. In dem Sinne, Peace!"
Nö mache ich nicht!
Weder auf der Wurstsemmel hängt nen Schild, for Fleischfressers only, noch trägst du ein Schild am Revers I`m Veggi only. Das nennt man dann Pech gehabt.
Ich mag auch Käse! Bin ein Allesfresser!
Würden wir zwei allerdings beim letzten Käsebrötchen landen, würde ich dir den Vortritt lassen, den ich kann auch noch ne Wurst zum Abschluss mampfen.
Nicht das du mir nachher vor Hunger umfällst.

Arbo Moosberg hat gesagt…

@Fluchtwagenfahrer:

>>Weder auf der Wurstsemmel hängt nen Schild, for Fleischfressers only, noch trägst du ein Schild am Revers I`m Veggi only. Das nennt man dann Pech gehabt.<<
Nochmal Kontext: Es ging in dem Beispiel um die Beobachtung, dass alle Wurstliebhaber oft erstmal die Käsesemmeln wegschlemmen. Gut, Du kannst das nicht im Vorfeld wissen, wer Vegetarier ist. Aber als Allesfresser könntest Du ja trotzdem erstmal vorsorglich die Wurstsemmeln nehmen und dann schauen, ob noch Käsesemmeln da sind. "Vorsorglich" heißt hier, sich bewusst zu machen, dass es auch Veggies geben könnte, während ein unreflektiertes "Nö!" nur von Ignoranz zeugt.

>>Würden wir zwei allerdings beim letzten Käsebrötchen landen, würde ich dir den Vortritt lassen, den ich kann auch noch ne Wurst zum Abschluss mampfen.
Nicht das du mir nachher vor Hunger umfällst.<<

Wenn ich das, was Du offenbar für Ironie hältst, hier mal beiseite lasse, sind wir genau da, wo ich hinwollte.

LG
Arbo

Arbo Moosberg hat gesagt…

@Charlie:

>>Weshalb machst Du so ein Aufheben um dieses aus meiner Sicht völlig absurde Thema - und wieso zur Hölle sollte ein Mensch, der auch Fleisch isst, nicht mit Vorliebe Käsebrötchen verspeisen, wenn sie angeboten werden? Ist das - laut Deiner Logik - nicht ebenfalls "diskriminierend"?<<

Vielleicht habe ich mich mit dem Text etwas missverständlich ausgedrückt. Also erstens war es eher ein Erfahrungsbericht. ;-) Und zweitens scheint mir vielleicht nicht ganz rübergekommen zu sein, was ich meine - und der Implizite Gehalt ist mir wohl auch untergegangen.

Also nochmal: Ich selbst habe kein Problem mit Fleischvertilgern, ich nerve nicht rum, ich missioniere nicht und so. Es hat sich auch viel in den letzten Jahren getan. Aber die gleiche Rücksicht, die ein Veggie walten lässt, erfährt eben keine entsprechende Antwort. Mehr noch, es wird "tolerant" getan, es aber bei ein paar Symbolen belassen. Da merken viele offenbar nicht, wo sie tatsächlich noch diskrimineren - und das bei Dingen, wo ich mir sage, dass einfach mal ein Perspektivwechsel das Problem offensichtlich werden lassen sollte. Deshalb ist das auch nicht diskriminierend, was ich meine, sondern es geht einfach und schlicht um Rücksicht. Und dazu gehört auch, sich einfach mal bewusst zu machen, dass es noch andere - außer einem selbst - gibt. Zum Beispiel am Buffet (daher auch mein Beispiel).

Nun könntest Du das alles noch als Befindlichkeit abtun. Der Punkt ist für mich aber der, dass mir a) die Diskussion immer wieder aufgezwängt wird, wenn z. B. - wie beschrieben - ohne Sinn und Verstand über Fleischersatz usw. die Nase gerümpft wird und ich der einzige bin, der sich für Inhaltsstoffe rechtfertigen soll, während andere nicht einen Gedanken an Inhaltsstoffe über andere Dinge auf dem Tisch verschwenden (Soßen, Fleisch usw.).

Und b) bin ich dann auch in jedem Fall der Arsch. Denn wenn ich das anspreche, "missioniere" ich. Wenn ich das nicht anspreche, aber meine Konsequenzen ziehe und mich eher an den Salat halte (statt Raclette, Grill usw.), dann bin ich ebenfalls der missionarische Spielverderber, der nicht mitmacht. Das mit den Brötchen ist dann auch ein schönes Beispiel: Wenn jemand die Käsesemmeln wegfrisst und nichts mehr da ist, dann geh' ich halt - da muss ich nicht rumstehen und gute Miene machen.

Und Dein Käsebeispiel ist in dem Kontext auch nicht ganz passend, denn meiner Erfahrung nach sind die Buffets in den allerseltensten Fällen mit so exquisitem Käse ausgestattet (und wenn, dann zeigt das meist an, dass Du als Veggie dort nicht das von mir beschriebene Problem hast).

Um was es mir geht, ist wie gesagt die Rücksicht, einfach mal nachdenken, statt "Besitzstände" zu wahren oder sogar (z.B. verbal) einen sozialdarwinistischen Chauvinismus zu praktizieren.

Da ist nämlich der implizite Gehalt, von dem ich sprach - und letztlich auch eine Antwort auf Deine Frage, warum ich das hier zum Thema mache. Von dem Mangel an oder zur Empathie ist es ja nicht weit zum Ich-oder-die-anderen-Verhalten, das wir im wettbewerblich organisierten Wirtschaftssystem anerzogen bekommen. Wer Marktwirtschaft bzw. Kapitalismus kritisert, darf auch vor diesen Verhaltensweisen die Augen nicht verschließen. Durch was soll sich denn ein Denken auszeichnen, das nicht mehr durch marktwirtschaftliche Kategorien geprägt ist? Da landen wir automatisch bei solchen Schlagworten wie Solidarität, Respekt und Rücksicht. Wenn ich aber nur an mich denke, andere Ignoriere, mein Verhalten also nicht reflektiere und entsprechend ändere, oder wenn ich mich nicht zurücknehme sondern - im Gegenteil - das Zurücknehmen von anderen auch noch bewusst zu meinem Vorteil nutze, dann zeigt das, dass ich den Imperativ der Marktwirtschaft sehr tief inhaliert habe...

Mechthild Mühlstein hat gesagt…

Was ist denn gegen den begriff »vegan« einzuwenden? Warum wird der Deiner meinung nach fälschlicherweise verwendet?

In Deutschland ist dieser begriff seit ca. den 80er jahren gebräuchlich, wurde aus dem Englischen übernommen, dieses wort wird vom wort »vegetable« abgeleitet und soll auf eine ausschließlich pflanzliche ernährung hinweisen. Wobei es veganern nicht allein um ernährung geht. Ihr ideal ist ein leben ohne produkte tierischen ursprungs. Was ist Deiner meinung nach an dem begriff nun falsch?

Mechthild Mühlstein hat gesagt…

Was ist denn gegen den begriff »vegan« einzuwenden? Warum wird der Deiner meinung nach fälschlicherweise verwendet?

In Deutschland ist dieser begriff seit ca. den 80er jahren gebräuchlich, wurde aus dem Englischen übernommen, dieses wort wird vom wort »vegetable« abgeleitet und soll auf eine ausschließlich pflanzliche ernährung hinweisen. Wobei es veganern nicht allein um ernährung geht. Ihr ideal ist ein leben ohne produkte tierischen ursprungs. Was ist Deiner meinung nach an dem begriff nun falsch?

Arbo Moosberg hat gesagt…

@Mechthild:

Wir liegen, denke ich, nicht sehr weit auseinander. Es geht mir darum, wie der Begriff heute gebraucht wird. (Dazu habe ich vor Ewigkeiten mal einen kleinen Beitrag geschrieben (hier).)

Im Grunde wird "vegan" heute als industrieller Webe- und Trendbegriff sehr häufig nur für das Essen verwendet. Dabei handelt es sich streng genommen aber "nur" um streng vegetarische Ernährung. Vegan ist aber ein Lebensstil, der - wie Du schreibst - weit mehr umfasst als die Ernährung, d. h. es werden keine Kosmetika, keine Kleidungsstücke usw. erworben, die Tierprodukte enthalten.

Anders formuliert: "streng vegetarisch" ernährst Du Dich, vegan lebst Du.


Ich will das nicht als Haarspalterei verstanden wissen. Ich find's halt einerseits den Leuten gegenüber, die vegan leben unfair, andererseits auch zu kurz gegriffen und bequem, einen veganen Lebensstil auf die streng vegetarische Ernährung zu reduzieren. Im dümmsten Fall futtere ich zwar tierleidlos, habe dann aber an der Gitarre einen Gurt aus Echtleder, Echtleder-Schuhe, Leim aus Tierknochen usw.

Auf nix anderes wollte ich mit meiner obigen Bemerkung hinaus.

LG
Arbo