Viele Medien berichten derzeit über einen Herrn Müller,
der bis dahin wohl der breiten Öffentlichkeit unbekannt war und der vielleicht
schon nächste Woche wieder dieses Schicksal teilen wird. Herr Müller, Jahrgang 1986, sitzt
seit 2013 für die Linke im Brandenburger Landtag und hat im Gesichtsbuch den Bundespräsidenten
Gauck einen „widerlichen
Kriegshetzer“ genannt.
Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass es
sich dabei um eine Kommentierung eines Beitrags aus dem Neuen Deutschland handelte:
„Ost-Pfarrer
kritisieren Gauck“. Dort ging es um Gaucks Äußerungen auf der 50.
Sicherheitskonferenz in München 2014, wonach „[d]ie Bundesrepublik […] auch
bereit sein [muss], mehr zu tun für jene Sicherheit, die ihr von anderen seit
Jahrzehnten gewährt wurde“.
Um ehrlich zu sein: Gauck war sich der Brisanz damals offenbar
bewusst, weshalb die Kriegstreiberei, die dort heute hineininterpretiert wird,
eher zwischen den Zeilen zu finden ist. Ein gewisser richtungsweisender
Unterton ist durchaus zu vernehmen, wenn Gauck u. a. darauf hinwies, dass
- es keine kategorische Ablehnung von Militäreinsätzen zu geben habe
- Deutschland für die Sicherheit zunehmend mehr Selbstverantwortung zu übernehmen hat
- das „Prinzip der staatlichen Souveränität und der Grundsatz der Nichteinmischung [..] gewalttätige Regime nicht unantastbar machen“ dürfen
- der Einsatz von Militär als „äußerstes Mittel“ möglich sein sollte
Gauck relativiert aber an vielen Stellen den Eindruck, er
würde einseitig Partei für den Krieg ergreifen (Einbindung von UN, Abwägung des
Kriegseinsatzes usw.). Seine Rede ist insofern ein Lehrstück dafür, spürbar
eine Stellung zu beziehen, dabei aber dennoch schemenhaft zu bleiben.
Aber zurück zu Müllers Kommentierung. Diese wäre wohl
niemandem weiter aufgefallen, wenn sie die SPD nicht begierig aufgegriffen
hätte, um darauf hinzuweisen, dass die Nazis in der Weimarer Zeit mit ähnlichen
Schmähungen den damaligen Reichspräsidenten verunglimpften (SPON).
Ein Nazi-Vergleich! Juhu, das Sommerloch ist gerettet.
Ich will das hier nicht weiter aufwärmen, aber auf einen
interessanten Punkt hinweisen, der bei dem ganzen Wirbel um diesen Nazi-Vergleich
unterging. Wie u. a. die Berliner
Zeitung berichtete, soll es den Paragrafen 90 im Strafgesetzbuch geben,
gemäß dem Müller für seine Schmähung des Bundespräsidenten hätte auch ins
Gefängnis gehen können. Allerdings nur, wenn der Bundespräsident die
Strafverfolgung veranlasst hätte. Gauck
hat darauf verzichtet (RBB).
Obwohl die Sache nun geklärt ist, lohnt es sich trotzdem,
einen Blick in diesen Paragrafen zu werfen, der eigentlich zwei Paragrafen
umfasst. §90a StGB trägt „Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole“ im
Titel und lautet:
„(1) Wer öffentlich, in einer
Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3)
1. die Bundesrepublik Deutschland
oder eines ihrer Länder oder ihre verfassungsmäßige Ordnung beschimpft oder
böswillig verächtlich macht oder
2. die Farben, die Flagge, das
Wappen oder die Hymne der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder verunglimpft,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu
drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer
eine öffentlich gezeigte Flagge der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer
Länder oder ein von einer Behörde öffentlich angebrachtes Hoheitszeichen der
Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder entfernt, zerstört,
beschädigt, unbrauchbar oder unkenntlich macht oder beschimpfenden Unfug daran
verübt. Der Versuch ist strafbar.
(3) Die Strafe ist
Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe, wenn der Täter sich durch
die Tat absichtlich für Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik
Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzt.“
Und im Paragraf 90b StGB „Verfassungsfeindliche
Verunglimpfung von Verfassungsorganen“ heißt es:
„(1) Wer
öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs.
3) ein Gesetzgebungsorgan, die Regierung oder das Verfassungsgericht des Bundes
oder eines Landes oder eines ihrer Mitglieder in dieser Eigenschaft in einer
das Ansehen des Staates gefährdenden Weise verunglimpft und sich dadurch
absichtlich für Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland
oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzt, wird mit Freiheitsstrafe von drei
Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
(2) Die Tat
wird nur mit Ermächtigung des betroffenen Verfassungsorgans oder Mitglieds
verfolgt.“
Offenbar ist es so, dass in der Causa Müller §90b StGB
gemeint war. Ich find’s deshalb journalistisch unsauber, dass im Grunde alle
Medien (angefangen vom Handelsblatt,
über die Welt
bis zur Süddeutschen)
vom §90 StGB schrieben. Wer sich den Spaß macht, in den Artikeln die
entsprechende Stelle zu suchen, wird sich des Eindrucks nicht erwehren können,
dass dort so hemmungslos wie gedankenlos abgeschrieben wurde. Das ist zwar nur
eine Kleinigkeit, aber auf der anderen Seite kann mir niemand einreden, dass es
mehr als ein paar Klicks bedurft hätte, dies zu recherchieren und dann den Zusatz
„b“ zu setzen.
Dieser Umstand ist auch deshalb keine Kleinigkeit, weil
er den Eindruck verdichtet, dass den eigentlichen Paragrafen 90b StGB niemand
so recht gelesen haben mochte. Für mich liest sich der nämlich so, dass die
Verunglimpfung die absichtliche Bestrebung „gegen den Bestand der
Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze“ erkennen lassen
muss.
Ich bin kein Jurist, aber ich denke, dass das eine
ziemlich hohe Hürde darstellt. Das hätte Anlass sein können, kritisch bei der entsprechenden
Staatsanwaltschaft (Potsdam) nachzufragen, was an Müllers zwei Sätzen denn nun
genau gegen den Bestand der Bundesrepublik oder gegen die Verfassungsgrundsätze
gerichtet ist. Das wäre kritischer Journalismus gewesen.
Was ich aber noch viel erstaunlicher finde, ist, dass es
diese beiden Paragrafen 90a und 90b StGB überhaupt gibt. Gut, die Ahndung der
Zerstörung von staatlichen Insignien, die an Behörden angebracht sind u. ä. (§90a
Abs. 2 StGB), das kann ich noch nachvollziehen, obwohl ich das eher unter Sachbeschädigung
verbuchen würde. Bei §90b StGB wird’s schon schwieriger: Dort wäre zu klären, wie
sich das zur Meinungsfreiheit (Artikel
5 GG) und zum Widerstand (Artikel
20 GG) verhält.
Aber unabhängig von diesen Fragen wirken beide Paragrafen
auf mich merkwürdig anachronistisch, regelrecht aus einer Zeit stammend, in der
Majestätsbeleidigung oder die Beleidigung des ZK
der SED geahndet wurde. Eine Zeit, in der offenbar niemand so recht mit
Kritik umzugehen wusste oder Kritik nicht erwünscht war. Das verleiht dem
ganzen Vorgang eine bittere Ironie: Das Wohlwollen des höchsten Repräsentanten des
Staates, von dem Müllers Wohlergehen für einen kurzen Moment abhängig war,
hätten Bürgerrechtler zu anderen Zeiten in anderen Ländern wohl kritisiert.
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